Version [13858]
Dies ist eine alte Version von WIPR1ZivilrechtAllgemein erstellt von WojciechLisiewicz am 2012-02-22 15:19:38.
WIPR I - Struktur eines zivilrechtlichen Problems
Im Privatrecht sind die Begriffe, wie Rechtsnorm, ihre Rechtsfolge oder Voraussetzungen ebenso relevant, wie in der Rechtswissenschaft insgesamt. Eine strukturierte Herangehensweise an das Privatrecht ist ebenso notwendig, wie dies bei allen anderen Rechtsgebieten der Fall ist. Zugleich gelten im Privatrecht einige Besonderheiten. Insbesondere ist das Privatrecht leichter zugänglich, wenn man sich Klarheit darüber verschafft, was auf diesem Rechtsgebiet zentrale Bedeutung hat. Das Privatrecht ordnet in aller Regel die Verhältnisse zwischen gleichberechtigten (privaten) Rechtssubjekten. Deshalb ist es nicht selbstverständlich, wer was von wem und unter welchen Umständen verlangen kann. Der Umstand, dass ein Rechtssubjekt von einem anderen - gleichberechtigten - Rechtssubjekt verlangen kann, wird als Anspruch bezeichnet. Die nebenbei in § 194 Abs. 1 BGB formulierte Definition des Anspruchs hat somit eine weitaus größere praktische Bedeutung, als nur für die Frage der Verjährung.
A. Hauptnormen und Hilfsnormen des Privatrechts
Die Hauptnormen sind für den jeweiligen Problembereich diejenigen Normen, die für die Problemlösung grundlegend und die bei der Suche nach Problemlösung, nach Beantwortung einer rechtlichen Frage als erste heranzuziehen sind. Sie genügen nicht, eine komplexe Frage zu beantworten, ermöglichen aber den Einstieg in die Prüfung der Frage im konkreten Fall.
Im Privatrecht steht in der Regel eine Anspruchsprüfung im Vordergrund, weshalb als Hauptnormen die Anspruchsgrundlagen dienen. Alle Normen, die bei der Prüfung einer Anspruchsgrundlage zusätzlich zu beachten sind, weil sie einzelne Merkmale der Hauptnorm definieren, sind als Hilfsnormen nicht weniger bedeutend, der Einstieg in die Fallprüfung beginnt jedoch stets mit der Hauptnorm, also bei der Frage nach einem Anspruch - mit der Anspruchsgrundlage. Als Beispiel einer typischen Anspruchsgrundlage kann § 433 Abs. 1 BGB genannt werden. Demnach kann z. B. der Käufer vom Verkäufer Übergabe und Übereignung der verkauften Sache verlangen.
Sofern sich die Frage nicht nach einem Anspruch stellt, sondern z. B. Vertragswirksamkeit betrifft, handelt es sich dabei um einen Teilabschnitt der Anspruchsprüfung.
Hilfsnormen füllen die Tatbestandsmerkmale der Hauptnorm aus. So zum Beispiel bei der Frage, ob der nach § 433 BGB notwendige Kaufvertrag wirksam ist, kann § 105 I BGB heranzuziehen sein, über den wiederum § 104 BGB zu beachten ist. Nach § 105 BGB ist ein Geschäft eines Geschäftsunfähigen nicht wirksam. Wer geschäftsunfähig ist, regelt § 104 BGB. Die Hilfsnormen begründen im Privatrecht also keinen Anspruch, sie sind jedoch zur Feststellung, ob ein Anspruch besteht, erforderlich.
Beispiel:
Im Beispiel, in dem G den F verprügelt hat, lässt sich dies wie folgt anwenden:
Da § 823 Abs. 1 BGB beim näheren Hinsehen das Recht des F offenbart, von G etwas zu verlangen (also eine Rechtsfolge, die der Definition eines Anspruchs in § 194 Abs. 1 BGB entspricht), ist diese Vorschrift zugleich eine Anspruchsgrundlage, also eine Hauptnorm für die Prüfung eines privatrechtlichen Falles. Hilfsnormen sind in diesem Zusammenhang diejenigen Regeln, welche einzelne Voraussetzungen des § 823 Abs. 1 BGB definieren - als Beispiel ist die Definition der Fahrlässigkeit aus § 276 Abs. 2 BGB zu nennen.
Die Antwort auf die Frage, ob in diesem Fall die Schadensersatzpflicht besteht oder nicht, ist zunächst einmal zweitrangig. Hier ist zunächst einmal festzuhalten, dass bei einer Anspruchsgrundlage als Hauptnorm die Rechtsfolge stets ein Anspruch ist. Bei einer Hilfsnorm ist die Frage, ob die jeweilige Norm in ihrer Rechtsfolge das feststellt, was der gerade relevante Prüfungspunkt ist.
Im vorliegenden Beispielsfall stellte sich die Frage danach, ob jemandem ein Schadensersatz zusteht. Deshalb hilft hier § 823 BGB, weil diese Vorschrift in ihrer Rechtsfolge die Schadensersatzpflicht enthält. Bei der Frage, ob jemand fahrlässig handelt, hilft diese Norm nicht mehr. Dafür aber § 276 Abs. 2 BGB (Fahrlässig handelt, wer ...).
Im Beispiel, in dem G den F verprügelt hat, lässt sich dies wie folgt anwenden:
Da § 823 Abs. 1 BGB beim näheren Hinsehen das Recht des F offenbart, von G etwas zu verlangen (also eine Rechtsfolge, die der Definition eines Anspruchs in § 194 Abs. 1 BGB entspricht), ist diese Vorschrift zugleich eine Anspruchsgrundlage, also eine Hauptnorm für die Prüfung eines privatrechtlichen Falles. Hilfsnormen sind in diesem Zusammenhang diejenigen Regeln, welche einzelne Voraussetzungen des § 823 Abs. 1 BGB definieren - als Beispiel ist die Definition der Fahrlässigkeit aus § 276 Abs. 2 BGB zu nennen.
Im vorliegenden Beispielsfall stellte sich die Frage danach, ob jemandem ein Schadensersatz zusteht. Deshalb hilft hier § 823 BGB, weil diese Vorschrift in ihrer Rechtsfolge die Schadensersatzpflicht enthält. Bei der Frage, ob jemand fahrlässig handelt, hilft diese Norm nicht mehr. Dafür aber § 276 Abs. 2 BGB (Fahrlässig handelt, wer ...).
Einer besonderen Erwähnung bedürfen Einwendungen und Einreden, die auch allgemein als Einreden (aus Sicht des Prozessrechts) bezeichnet werden. Dies sind die Gegenrechte des Rechtssubjektes, das sich gegen Ansprüche wehrt. Die Abbildung des Zivilrechts in Form von Ansprüchen und Einreden im kontradiktorischen Verhältnis der Parteien eines Zivilrechtsverhältnisses ist eine Errungenschaft der römischen Juristen (actio und exceptio), die jedoch heute ebenso gültig ist - der Anspruchsaufbau im deutschen Zivilrecht berücksichtigt auf der einen Seite die Voraussetzungen des Anspruchs wie auch die Gegenrechte der anderen Partei. (*)
(*) ausführlich zum Anspruch und Einrede in der juristischen Ausbildung Medicus in AcP 1974, S. 313 ff.
Mehr dazu weiter unten, bei Anspruchsaufbau.Bildlich kann dies wie folgt dargestellt werden:
B. Anspruchssystematik als Einstieg in das Zivilrecht
Da die Prüfung von Ansprüchen im Zentrum der zivilistischen Praxis steht, sollte die Betrachtung des Zivilrechts naturgemäß mit einem Überblick über die Anspruchsgrundlagen beginnen. Einen kleinen Einblick finden Sie hier.
Die Ansprüche können auf verschiedene Weise geordnet werden - das Unterscheidungsmerkmal kann ihre Quelle sein (Vertrag, Gesetz etc.) oder seine Natur (schuldrechtlich, sachenrechtlich):
In der Praxis ist es häufig sinnvoll, nach den verschiedenen denkbaren Anspruchszielen (oder Inhalten) wie Herausgabe, Vertragserfüllung, Schadensersatz zu unterscheiden, weil der Anspruchsteller meist nur das weiß, was er erreichen will.
Die Systematik der Ansprüche im Zivilrecht ist allerdings niemals verbindlich, weil sie keine rechtlichen Wirkungen hat. Abgesehen von dem manchmal relevanten Problem der Anspruchskonkurrenz spielt es keine Rolle, auf welche Weise wir für uns die insgesamt möglichen Ansprüche ordnen - entscheidend ist, dass wir im konkreten Fall eine sinnvolle Anspruchsgrundlage finden. Darüber hinaus ist zu beachten, dass der Überblick über die Anspruchsgrundlagen für einen sicheren juristischen Auftritt weitaus größere Bedeutung hat, als die Rechtsprechung zum Detailproblem XYZ. Es ist also sehr empfehlenswert, mit der Anspruchssystematik selbst etwas zu experimentieren und die im Zivilrecht möglichen Ansprüche immer wieder durchzuschauen.
C. Anspruchsaufbau
Der Anspruchsaufbau, also die Art und Weise, wie ein Jurist methodisch vorzugehen hat, um festzustellen, ob ein konkreter Anspruch gegeben ist oder nicht, geht von der Grundstruktur eines privatrechtlichen Konflikts aus, die bereits den Juristen im alten Rom bekannt war: auf der einen Seite erhebt die Partei ihren Anspruch, während die andere Partei Schutz in ihren Gegenrechten sucht:
Daraus ergibt sich auch die Logik des Anspruchsaufbaus, bei der zum einen die Voraussetzungen für die Entstehung des Anspruchs zu prüfen sind. Auf der anderen Seite sind aber auch die Einwendungen und Einreden des Anspruchsgegners zu prüfen, also die Frage, ob der Anspruch dadurch nicht zum Ziel führen kann, weil er entweder verloren wurde oder nicht durchsetzbar ist. Einen Einblick in den allgemeinen Anspruchsaufbau bietet folgende Struktur. Dabei ist dieser Aufbau wie folgt zu verstehen:
1. Anspruchserwerb
Unter Anspruchserwerb sind die Entstehungsvoraussetzungen (z. B. Abschluss eines Vertrages) und (negativ) rechtshindernden Einwendungen zu prüfen (z. B. Umstände, die zur Nichtigkeit eines Vertrages führen). Alternativ besteht die Möglichkeit, dass der Anspruchsteller gar nicht an der Entstehung seines Anspruchs mitgewirkt hat, diese aber von einem anderen ableitet (Forderungsabtretung). Dann ist diese Ableitung entsprechend zu prüfen (hat man einen bestehenden Anspruch von einer anderen Person erworben?).
Unter Anspruchserwerb sind die Entstehungsvoraussetzungen (z. B. Abschluss eines Vertrages) und (negativ) rechtshindernden Einwendungen zu prüfen (z. B. Umstände, die zur Nichtigkeit eines Vertrages führen). Alternativ besteht die Möglichkeit, dass der Anspruchsteller gar nicht an der Entstehung seines Anspruchs mitgewirkt hat, diese aber von einem anderen ableitet (Forderungsabtretung). Dann ist diese Ableitung entsprechend zu prüfen (hat man einen bestehenden Anspruch von einer anderen Person erworben?).
2. (Kein!) Anspruchsverlust
Eine negative Voraussetzung eines Anspruchs stellen die Einwendungen dar. Bei der Frage, ob der Anspruchsteller einen an sich erworbenen Anspruch nicht verloren hat (z. B. dadurch, dass die geschuldete Sache untergegangen ist), sind die rechtsvernichtenden Einwendungen zu prüfen.
Eine negative Voraussetzung eines Anspruchs stellen die Einwendungen dar. Bei der Frage, ob der Anspruchsteller einen an sich erworbenen Anspruch nicht verloren hat (z. B. dadurch, dass die geschuldete Sache untergegangen ist), sind die rechtsvernichtenden Einwendungen zu prüfen.
3. Durchsetzbarkeit
Schließlich sind die Einreden zu prüfen. In der rechtstheoretischen Terminologie sind dies grundsätzlich die rechtshemmenden Einwendungen, die wiederum eingeteilt werden können in dilatorische (vorübergehende) oder peremptorische (dauerhafte) Einreden. Beispiel: Verjährung.
Schließlich sind die Einreden zu prüfen. In der rechtstheoretischen Terminologie sind dies grundsätzlich die rechtshemmenden Einwendungen, die wiederum eingeteilt werden können in dilatorische (vorübergehende) oder peremptorische (dauerhafte) Einreden. Beispiel: Verjährung.
4. Schlussbemerkungen
Für alle zivilrechtlichen Ansprüche können die damit verbundenen Fragen in großen Teilen fast immer auf gleichem Weg beantwortet werden. Denn viele Stellen im sog. Anspruchsaufbau sind immer gleich - bei jedem Anspruch müssen wir an sie denken. Bei manchen Anspruchskategorien (z. B. bei Ansprüchen auf Erfüllung eines schuldrechtlichen Vertrages) ist der "wiederverwertbare" Teil noch viel größer. Deshalb lohnt es sich, einige Themen modular zu lernen und diese dann im jeweils richtigen Kontext zu lernen.
Für alle zivilrechtlichen Ansprüche können die damit verbundenen Fragen in großen Teilen fast immer auf gleichem Weg beantwortet werden. Denn viele Stellen im sog. Anspruchsaufbau sind immer gleich - bei jedem Anspruch müssen wir an sie denken. Bei manchen Anspruchskategorien (z. B. bei Ansprüchen auf Erfüllung eines schuldrechtlichen Vertrages) ist der "wiederverwertbare" Teil noch viel größer. Deshalb lohnt es sich, einige Themen modular zu lernen und diese dann im jeweils richtigen Kontext zu lernen.
Häufig bleibt bei dem Anfänger aus der zivilrechtlichen Vorlesung oder Übung nur ein Satz hängen, mit dem er denkt, damit sei er auch auf den schlimmsten Fall vorbereitet: "Wer will was von wem woraus"? Dieser Satz mit den vier W-s ist mit Vorsicht zu genießen. Denn diese Faustregel ist nur dann hilfreich, wenn eine ganz bestimmte Fragestellung die Aufgabe des Juristen bestimmt. Die Frage mit den 4 W-s ist nur dann zu stellen, wenn nicht von vornherein klar ist, welche Rechte in welchem Verhältnis zu prüfen sind.
Deshalb ist eine viel bessere Faustregel für den Anfänger die: "Lese die Frage!". Noch einfacher und eigentlich genauer. Denn die Frage bestimmt, was zu prüfen ist - das wird häufig genug ignoriert. Lautet die Frage "Wie ist die Rechtslage", ist tatsächlich zu überlegen, wer was von wem und woraus will. Lautet die Frage aber
"Kann A von B Zahlung des Kaufpreises verlangen?",
Deshalb achten Sie stets auf die Fragestellung - sowohl im Studium wie auch in der Praxis. Erst, wenn klar ist, was zu prüfen ist, können Sie die eine oder andere Vorgehensweise üben...
zurück zur Gliederung
Artikel gehört zur Kategorie Wirtschaftsprivatrecht
Diese Seite wurde noch nicht kommentiert.