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Thüringer Bauordnung [ThürBO]
Kommentar Prof. Dr. Sven Müller-Grune
§ 71 Baugenehmigung und Baubeginn |
(1) Die Baugenehmigung ist zu erteilen, wenn dem Bauvorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind; die Bauaufsichtsbehörde darf den Bauantrag auch ablehnen, wenn das Bauvorhaben gegen sonstige öffentlich-rechtliche Vorschriften verstößt. Die durch eine Umweltverträglichkeitsprüfung ermittelten, beschriebenen und bewerteten Umweltauswirkungen sind nach Maßgabe der hierfür geltenden Vorschriften zu berücksichtigen.
(2) Die Baugenehmigung ist schriftlich zu erteilen, aber nicht in elektronischer Form; sie ist nur insoweit zu begründen, als Abweichungen, Ausnahmen oder Befreiungen von nachbarschützenden Vorschriften zugelassen werden und der Nachbar nicht nach § 69 Abs. 2 zugestimmt hat.
(3) Die Baugenehmigung kann unter Auflagen, Bedingungen und dem Vorbehalt des Widerrufs oder der nachträglichen Aufnahme, Änderung oder Ergänzung einer Auflage sowie befristet erteilt werden. Nach Widerruf oder nach Ablauf der gesetzten Frist ist die bauliche Anlage ohne Entschädigung zu beseitigen; ein ordnungsgemäßer Zustand ist herzustellen. Um die Erfüllung von mit der Baugenehmigung verbundenen Verpflichtungen zu gewährleisten, kann eine Sicherheitsleistung bis zur Höhe der für die Erfüllung der Verpflichtung voraussichtlich anfallenden Kosten verlangt werden.
(4) Die Baugenehmigung wird unbeschadet der privaten Rechte Dritter erteilt.
(5) Die Gemeinde ist, wenn sie nicht Bauaufsichtsbehörde ist, von der Erteilung, Verlängerung, Ablehnung, Rücknahme oder dem Widerruf einer Baugenehmigung, Teilbaugenehmigung, eines Vorbescheids, einer Zustimmung, Ausnahme, Befreiung oder Abweichung zu unterrichten. Eine Ausfertigung des Bescheids einschließlich der mit einem Genehmigungsvermerk versehenen Bauvorlagen ist beizufügen.
(6) Mit der Bauausführung oder mit der Ausführung des jeweiligen Bauabschnitts darf erst begonnen werden, wenn
1. die Baugenehmigung dem Bauherrn zugegangen ist,
2. die Prüfungen nach § 65 Abs. 3 erfolgt sind und
3. die Baubeginnsanzeige der Bauaufsichtsbehörde vorliegt.
(7) Vor Baubeginn muss die Grundfläche der baulichen Anlage abgesteckt und ihre Höhenlage festgelegt sein. Die Bauaufsichtsbehörde kann verlangen, dass Absteckung und Höhenlage von ihr abgenommen oder die Einhaltung der festgelegten Grundfläche und Höhenlage nachgewiesen wird. Baugenehmigungen, Bauvorlagen und bautechnische Nachweise, soweit es sich nicht um Bauvorlagen handelt, müssen an der Baustelle von Baubeginn an vorliegen.
(8) Der Bauherr hat den Ausführungsbeginn genehmigungsbedürftiger Vorhaben und die Wiederaufnahme der Bauarbeiten nach einer Unterbrechung von mehr als drei Monaten mindestens eine Woche vorher der Bauaufsichtsbehörde schriftlich mitzuteilen (Baubeginnsanzeige).
Kommentierung |
A. Normgeschichte
1. Historie
2. Gesetzesbegründung
Absatz 1 Satz 1 berücksichtigt das mit Blick auf die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Baufreiheit gebotene Prinzip, dass auf die Erteilung einer Baugenehmigung (grundsätzlich) ein Rechtsanspruch besteht, wenn dem nicht öffentlich-rechtliche Vorschriften als Inhalts- und Schrankenbestimmungen im Sinne des Artikels 14 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes entgegenstehen. Die Reduzierung dieser Beschränkung auf öffentlich-rechtliche Vorschriften, "die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind", öffnet die Regelung gegenüber den in § 62 Absatz 1 Satz 1, § 63 Satz 1 und § 65 Abs. 4 enthaltenen Prüfbeschränkungen. Satz 1 Halbsatz 2 ermöglicht die Ablehnung eines Bauantrags auch wegen eines Verstoßes gegen andere öffentlich-rechtliche Vorschriften, der quasi "zufällig" erkannt wird. Die Regelung ist auch in den Fällen von Bedeutung, in denen bereits Nachbarbeschwerden vorliegen, denen nunmehr auch dann im Rahmen des Baugenehmigungsverfahrens nachgegangen werden kann, wenn an sich nicht zu prüfende Vorschriften berührt werden. Unabhängig davon lässt die Beschränkung des Prüfumfangs im Baugenehmigungsverfahren nach § 59 Abs. 2 wie bisher die allgemeinen Eingriffsbefugnisse des § 58 Abs. 1 unberührt. Die Bauaufsichtsbehörden können daher nicht nur bei der Verletzung von Vorschriften eingreifen, die im bauaufsichtlichen Verfahren zu prüfen sind, sondern auch bei anderen Verstößen. Sie können damit insbesondere auch bei Vorhaben, die im Genehmigungsfreistellungsverfahren oder im vereinfachten Verfahren behandelt werden, bei denen also die Regelungen der Thüringer Bauordnung nicht zu prüfen sind, wegen Verstößen gegen die Thüringer Bauordnung einschreiten.
Satz 2 trägt dem Erfordernis Rechnung, dass nach der Änderung des § 17 des Gesetzes über die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVPG) durch das Gesetz zur Umsetzung der UVP-Änderungsrichtlinie, der IVU-Richtlinie und weiterer EG-Richtlinien zum Umweltschutz vom 27. Juni 2001 (BGBl. I S. 1950) nicht mehr gewährleistet ist, dass die Umweltverträglichkeitsprüfung bei baugenehmigungsbedürftigen Bauvorhaben (vgl. Nr. 18 der Anlage 1 zum UVPG) ausschließlich im Bauleitplanverfahren abzuarbeiten ist, sondern auch Fälle denkbar sind, in denen die Umweltverträglichkeitsprüfung ganz oder teilweise im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren geleistet werden muss. Eine Ausweitung der materiellrechtlichen Anforderungen an Bauvorhaben ist wegen der allein verfahrensrechtlichen Bedeutung der Umweltverträglichkeitsprüfung damit nicht verbunden.
Absatz 2 fasst die für die Baugenehmigung zu beachtenden formalen Anforderungen zusammen. Nach § 3a Abs. 2 ThürVwVfG kann eine durch Rechtsvorschrift angeordnete Schriftform, soweit nicht durch Rechtsvorschrift etwas anderes bestimmt ist, durch die elektronische Form ersetzt werden. Soweit im Rahmen bauaufsichtlicher Verfahren Anträge oder Verwaltungsakte der Schriftform bedürfen, ist die elektronische Form in gleicher Weise geeignet. Dies gilt jedoch nicht für Baugenehmigungen, da bei baulichen Anlagen über den gesamten Zeitraum ihres Bestehens insbesondere im Hinblick auf den Nachweis des Bestandsschutzes feststellbar sein muss, in welchem Umfang die Anlage genehmigt wurde. Der Zeitraum kann auch über 100 Jahre betragen. Da derzeit nicht gewährleistet ist, dass elektronisch erstellte und gespeicherte Daten über einen entsprechend langen Zeitraum lesbar sind, kann die elektronische Form die erforderliche Beweisfunktion nicht erfüllen. Sie wird daher ausgeschlossen.
Absatz 3 erlaubt wie § 36 ThürVwVfG die Aufnahme von Nebenbestimmungen in die Baugenehmigung. Die inhaltsgleiche und daher an sich entbehrliche Regelung wird als Klarstellung beibehalten.
Absatz 4 verdeutlicht, dass die Baugenehmigung - in dem von Absatz 1 gezogenen Rahmen - ausschließlich eine öffentlich-rechtliche Unbedenklichkeitsbescheinigung darstellt. Das Gebrauchmachen von der Baugenehmigung kann daher an entgegenstehenden zivilrechtlichen Ansprüchen scheitern. Dies bedeutet umgekehrt, dass dem Bauvorhaben entgegenstehende zivilrechtliche Ansprüche im Baugenehmigungsverfahren grundsätzlich unbeachtlich sind. Sie können allerdings das Sachbescheidungsinteresse des Antragstellers entfallen lassen.
Nach Absatz 5 ist die Gemeinde von Entscheidungen über die Zulässigkeit von Bauvorhaben zu unterrichten. Die Regelung dient der Wahrung der gemeindlichen Planungshoheit, da auch genehmigte, aber noch nicht ausgeführte Bauvorhaben Auswirkungen auf die Möglichkeiten zur Aufstellung von Bebauungsplänen haben können.
Nach Absatz 6 ist allein das Vorliegen einer Baugenehmigung für einen Baubeginn noch nicht ausreichend. Erforderlich ist insbesondere der Abschluss der Prüfung der bautechnischen Nachweise, da sich daraus ergeben kann, dass das Bauvorhaben nicht so wie genehmigt ausgeführt werden kann. Um zu vermeiden, dass aufgrund der Prüfung insbesondere des Brandschutznachweises eine Umplanung erfolgen muss, sollte der Bauherr beziehungsweise der Bauvorlageberechtigte für eine frühzeitige Abstimmung zwischen dem Ersteller des Brandschutznachweises und dem Ersteller der weiteren Bauvorlagen sorgen.
Absatz 7 verlangt als weitere Voraussetzung des Baubeginns die Absteckung der Grundfläche der baulichen Anlage und die Festlegung der Höhenlage. Diese Maßnahmen sollen gewährleisten, dass jedenfalls die äußere Hülle der Anlage entsprechend der Genehmigung errichtet wird. Sie dürfen nicht dazu genutzt werden, die erteilte Baugenehmigung zu modifizieren. Ein Verlangen der Bauaufsichtsbehörde, Absteckung und Höhenlage abzunehmen oder die Einhaltung der festgelegten Grundfläche und Höhenlage nachzuweisen, kommt insbesondere bei Grenzbebauungen und bei unklaren oder engen Grundstücksverhältnissen in Betracht. Auch bei besonderen Schadensrisiken als Folge eines falschen Grenzbezugs, wie es bei höheren Gebäudeklassen der Fall sein könnte, kann ein entsprechendes Verlangen in Betracht kommen. Eine Konkretisierung der Voraussetzungen soll in einer Bekanntmachung zum Vollzug der Thüringer Bauordnung erfolgen. Das in Satz 3 geforderte Vorliegen verschiedener Unterlagen an der Baustelle ist erforderlich, damit die beteiligten Unternehmer und der Bauleiter ihren Verpflichtungen nach den §§ 57 und 58 nachkommen können.
Die nach Absatz 8 erforderliche Baubeginnsanzeige dient der Überwachung der Bauarbeiten durch die Bauaufsichtsbehörden. Sie sollen ohne umfangreiche Routinekontrollen erfahren, welche Baustellen in Betrieb sind und gegebenenfalls überwacht werden müssen.
3. Verwaltungsvorschrift
B. Normauslegung
Zitiervorschlag:
Müller-Grune Sven, Kommentar zur Thüringer Bauordnung, Schmalkalden 2017, § 71.
© Prof. Dr. Sven Müller-Grune |
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