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Fallbeispiel: Mitbestimmung im Unternehmen
A. Sachverhalt
Der Bundestag beschließt am 4. Mai 1976 ein Gesetz, in dem u. a. Folgendes geregelt ist:
§ 1
(1) In Unternehmen, die
- in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft, einer Kommanditgesellschaft auf Aktien, einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, einer bergrechtlichen Gewerkschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit oder einer Erwerbsgenossenschaft und Wirtschaftsgenossenschaft betrieben werden und
- in der Regel mehr als 2.000 Arbeitnehmer beschäftigen, haben die Arbeitnehmer ein Mitbestimmungsrecht nach Maßgabe dieses Gesetzes.
(2) ...
§ 2
(1) Der Aufsichtsrat eines Unternehmens
- mit in der Regel nicht mehr als 10.000 Arbeitnehmern setzt sich zusammen aus je sechs Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer;
- mit in der Regel mehr als 10.000, jedoch nicht mehr als 20.000 Arbeitnehmern setzt sich zusammen aus je acht Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer;
- mit in der Regel mehr als 20.000 Arbeitnehmern setzt sich zusammen aus je zehn Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer.
Bei den in Satz 1 Nr. 1 bezeichneten Unternehmen kann die Satzung (der Gesellschaftsvertrag, das Statut) bestimmen, dass Satz 1 Nr. 2 oder 3 anzuwenden ist. Bei den in Satz 1 Nr. 2 bezeichneten Unternehmen kann die Satzung (der Gesellschaftsvertrag, das Statut) bestimmen, dass Satz 1 Nr. 3 anzuwenden ist.
(2) Unter den Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer müssen sich befinden
1. in einem Aufsichtsrat, dem sechs Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer angehören, vier Arbeitnehmer des Unternehmens und zwei Vertreter von Gewerkschaften;
2. in einem Aufsichtsrat, dem acht Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer angehören, sechs Arbeitnehmer des Unternehmens und zwei Vertreter von Gewerkschaften;
3. in einem Aufsichtsrat, dem zehn Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer angehören, sieben Arbeitnehmer des Unternehmens und drei Vertreter von Gewerkschaften.
(3) ...
§ 29
(1) Beschlüsse des Aufsichtsrats bedürfen der Mehrheit der abgegebenen Stimmen, soweit nicht in Absatz 2 und in den §§ 27, 31 und 32 etwas anderes bestimmt ist.
(2) Ergibt eine Abstimmung im Aufsichtsrat Stimmengleichheit, so hat bei einer erneuten Abstimmung über denselben Gegenstand, wenn auch sie Stimmengleichheit ergibt, der Aufsichtsratsvorsitzende zwei Stimmen. § 108 Abs. 3 des Aktiengesetzes ist auch auf die Abgabe der zweiten Stimme anzuwenden. Dem Stellvertreter steht die zweite Stimme nicht zu.
Gegen die zitierten Vorschriften des Gesetzes erhebt Großaktionär A der von der Regelung betroffenen Firma D AG sofort nach Verkündung eine Verfassungsbeschwerde.
Frage: Hat die Verfassungsbeschwerde Aussicht auf Erfolg?
B. Lösungsskizze
Die Verfassungsbeschwerde hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist
1. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde
a. Beschwerdegegenstand
Gesetz ist Akt der Hoheitsgewalt (+)
b. Beschwerdefähigkeit
Es ist davon auszugehen, dass A inländische Person ist, auch bei juristischer Person unter Umständen OK (+)
c. Beschwerdebefugnis
Berufung auf Rechte aus Art. 14 und 9 GG möglich. Auch wenn gegen Gesetz, ist die Firma D laut Sachverhalt von der Regelung betroffen - das Gesetz begründet also konkrete Folgen für die D AG und auch für den Einfluss ihrer Eigentümer. Damit selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen. (+)
d. Rechtswegerschöpfung
Gegen Gesetze ist kein Rechtsweg vorgesehen. Zuwiderhandlung und Abwarten konkreter Folgen wäre nicht zumutbar. (+)
e. Formalien
Insbesondere Frist eingehalten (§ 93 Abs. 3 BVerfGG - ein Jahr bei Gesetzen), im Übrigen anzunehmen, dass OK. (+)
2. Annahmefähigkeit der Verfassungsbeschwerde
Nach § 93a BVerfGG und ff. wird eine Verfassungsbeschwerde auch wenn sie zulässig ist nur unter bestimmten Umständen zur Entscheidung angenommen. Die Bedeutung der hier gestellten Frage (ist das Mitbestimmungsgesetz verfassungswidrig?) wird eine Annahme wohl rechtfertigen.
3. Begründetheit der Verfassungsbeschwerde
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn A in seinen geltend gemachten Rechten tatsächlich verletzt ist. In Betracht kommen hier - wie bereits bei der Beschwerdebefugnis ausgeführt - die Grundrechte aus Art. 14 I und Art. 9 GG in Betracht.
a. Verletzung des Art. 14 GG
Es handelt sich wohl um Inhaltsbestimmung - beim Eingriff kann es definitiv geklärt werden.
Schutzbereich?
- persönlich - es ist davon auszugehen, dass inländische natürliche oder juristische Person
- sachlich - sind die Rechte an der D AG des A auch Eigentum? - ja, Anteilseigentum ist vom Schutzbereich des Art. 14 GG erfasst
(+)
Eingriff?
- die Regelung betrifft das Eigentum des A, er kann den Einfluss nicht in der gleichen Weise ausüben, wie bisher
- es handelt sich nicht um eine Enteignung - seine Anteile kann er ohne Weiteres behalten
(+) als Inhalts- und Schrankenbestimmung
keine Rechtfertigung?
- die Einrichtungsgarantie, die "Sollstruktur" des Art. 14 I GG beachtet? Wird durch das Gesetz die grundsätzliche Zuordnung beim Eigentümer in seiner Privatsphäre belassen?
Schwerpunkt: sofern der Gesetzgeber die Entscheidung über Verfügung über Kapital im Unternehmen dem Eigentümer belässt, was dadurch mittelbar geschehen könnte, dass die Kontrolle über die Führung verloren wäre, ist es unproblematisch.
- Verhältnismäßigkeit:
zu beachten, dass bei der Regelung der Ausgestaltung der Nutzung eines sowieso gesetzlich gebundenen Bereichs des Eigentums (Gesellschaftsrecht) der Spielraum des Gesetzgebers weiter ist, als bei den Anteilsrechten an sich;
Zweck: bessere Einbindung der Mitarbeiter in die Gestaltung des Unternehmens (legitim)
geeignet: durch Festlegung von Sitzen in Aufsichtsorganen kann das Ziel gefördert werden
erforderlich: mildere Mittel: genauso wirksam nicht denkbar; reine Informationsrechte oder -pflichten würden die Einbindung nur in geringerem Maße gewährleisten (vgl. Betriebsrat)
angemessen: Abwägung - weil die Bindung des Eigentums (Art. 14 II GG) greift, ist das Interesse des Unternehmenseigentümers ebenso zu gewichten, wie das der Arbeitnehmer, die vom Schicksal des Unternehmens abhängen. Durch die Bindung und die Überlassung der Letztentscheidung beim Eigentümer OK (andere Meinung vertretbar).
- die Bestandsgarantie
Das dem A zustehende Recht auf (Anteils-)Eigentum wurde nur insofern beeinträchtigt, als A nun auch die Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Unternehmen dulden muss, an dem er (möglicherweise auch mehrheits-) beteiligt ist. Seine Verfügungs- und Entscheidungsgewalt verbleibt bei ihm. Damit ist der Eingriff nicht besonders intensiv.
Vor diesem Hintergrund ist zu prüfen, ob die Einschränkung der Rechte des A im Unternehmen ein unverhältnismäßiger Eingriff in seine bisher bestehenden Rechtspositionen darstellt.
Da der Gesetzgeber seine Ziele hier an der verfassungsrechtlich ebenso wie Eigentum selbst geschützten Sozialbindung richtet (Mitgestaltung des Unternehmens durch Arbeitnehmer, weil diese mit dem Unternehmen intensiv in Berührung kommen), ist auch bei dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung zwischen den gleichberechtigten Interessen des Eigentümers und der Allgemeinheit abzuwägen. Vor dem Hintergrund dieses Ziels ist die Maßnahme:
- geeignet - s.o. (+)
- erforderlich - mildere Mittel mit gleicher Wirkung nicht ohne Weiteres ersichtlich (+)
- angemessen - insbesondere deswegen, weil Eigentümer nach wie vor Entscheidungsgewalt gehält (+).
Ergebnis zu Art. 14 GG: ein Verstoß gegen Art. 14 liegt nicht vor, insofern wäre die Verfassungsbeschwerde nicht begründet.
b. Verletzung des Art. 9 GG
- Schutzbereich: eine Gesellschaft fällt in den Schutzbereich; A kann sich im Hinblick auf seine Betätigung in der D AG auf Art. 9 I GG berufen.
- Eingriff: hier wird dem A nicht verwehrt, an der Vereinigung teilzunehmen oder aus ihr auszutreten.
Aber: Sofern sich die Vereinigung selbst (D AG) auf das Grundrecht aus Art. 9 I GG beruft, indem sie die staatliche Regelung für zu starke Einmischung in die innere Verfassung betrachtet, ist ein Eingriff durchaus denkbar!!!
Allerdings auch hier wird die Gesellschaft nicht auf unzulässige, unangemessene Weise belastet, weil:
- die Funktionsfähigkeit der Vereinigung nicht beeinträchtigt wird,
- keine neuen Mitglieder aufgeworfen werden (keine zwangsweise Aufnahme),
- insgesamt die persönliche Komponente der Vereinigungsfreiheit sehr geringe Rolle spielt - auch ohne Mitbestimmung ist die Vereinigung bereits vielen Regelungen unterworfen und kann ihren Zweck sowieso nur bei Mitwirkung vieler Unbeteiligten erreichen (insb. bei großen Unternehmen).
Einziger Zweifel: das Bundesverfassungsgericht nennt keine Verankerung in der Verfassung für die Einschränkungen. Beruft sich nur auf die geringe Intensität des Eingriffs, weil "nur an der Peripherie" des Grundrechts erfolgt. Damit sollen alle sinnvollen Belange ausreichen, eine Ausgestaltung des Vereinigungsrechts vorzunehmen.
Vgl. BVerfGE 50, 290
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