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Forschungsprojekt Sanierungsfusionen


Einleitung

Die „failing firm“ Einrede – im deutschen am ehesten als Scheiternseinrede zu übersetzen, aber im Kartellrecht zumeist unter dem Stichwort „Sanierungsfusion“ behandelt – ist ein kartellrechtliches Instrument, mit dem ein Unternehmen einen wirtschaftlich ums Überleben kämpfenden Wettbewerber im Wege einer „Sanierungsfusion“ ohne Rücksicht auf seine zunehmende Marktmacht übernehmen kann. Während in der USA – wo die „failing firm“ Doktrin (oder auch „failing company“ Doktrin“) seit über 70 Jahren in der Fusionskontrolle genutzt wird – die Einrede teilweise als „Überlebender“ (Richard D. Friedman, Untangling the Failing Company Doctrine, 64 Texas Law Review 1375 (1986)) beschreiben wird, hat ihr die EU-Kommission zusätzliches Leben eingehaucht: in Übereinstimmung mit ihrer neueren Entscheidungspraxis hat sie die Zulässigkeit von „Sanierungsfusionen“ zwischen Wettbewerbern unter bestimmten Umständen in ihren „Leitlinien zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse“ vom 28. Januar 2004 niedergelegt (Kommission, Bekanntmachung „Leitlinien zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse gemäß der Ratsverordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen“ vom 28.01.2004, Nr. 96-98, veröffentlicht ABl. EG L 24/1 (29.1.2004)). Die Kommission nennt diese Ausnahme vom prinzipiellen Verbot wettbewerbsbeschränkender Fusionen nicht „failing firm“ defence oder Insolvenzeinrede. Vielmehr qualifiziert sie die Kriterien für eine Sanierungsfusion rechtlich als „Fehlen von Kausalität“ zwischen Fusion und Wettbewerbsbeschränkung. Dennoch besteht kein Zweifel, dass das zugrundeliegende Konzept – in der englischen Fassung der Leitlinien auch mit „failing firm“ überschrieben – der amerikanischen Einrede entspricht (Vincenzo Baccaro, Failing Firm Defene and Lack of Causality: Doctrine and Practise in Europe of Two Closely Related Concepts, [2004] European Competition Law Review 11).
Diese Übernahme des amerikanischen Konzepts ins europäische Recht lässt es sinnvoll erscheinen, Herkunft und Ziele der „failing firm“ Doktrin zu untersuchen und ihre Einpassung in das EU-Fusionskontrollrecht kritisch zu hinterfragen.
Die Zulässigkeit von Sanierungsfusionen kann positive volkswirtschaftliche und soziale Wirkungen hervorrufen (Siehe zur sozialen Rechtfertigung der Doktrin Lawrence Anthony Sullivan, Handbook of the Law of Antitrust, West Publishing (St. Paul), § 204, at 628 (1977). Generell zu den Zielen des Kartellrechts Robert H. Bork, The Antitrust Paradox. A Policy at War with Itself, The Free Press (New York), 51-89 (1993)). Die wichtigste ist die mögliche Rettung von Arbeitsplätzen, die bei einem durch Unternehmensinsolvenz bedingten Ausscheiden eines Unternehmens aus einem Markt nahezu zwangsläufig ist. Der Verlust von Arbeitsplätzen ist derzeit die größte Gefahr für die westeuropäischen Volkswirtschaften, wie die Entwicklung der letzten Jahre in den von der Finanzkrise besonders betroffenen südeuropäöischen Ländern gezeigt hat. Eine hohe Zahl von Langzeitarbeitslosen - gerade unter Jugendlichen - belastet die Sozialsysteme. In Zeiten zunehmenden Arbeitsplatzabbaus durch neue Technologien wächst die Gefahr eines Zusammenbruchs der wirtschaftlichen und sozialen Systeme. So erscheint die Erhaltung der bestehenden Arbeitsplätze als die größte Herausforderung moderner Politik (ähnlich auch Edward O. Correia, Re-Examining the Failing Company Defense, 64 Antitrust Law Journal 683 (1986); Joel G. Chefitz, A Tale of Two Mergers: American/TWA and United/USAir, 14 DePaul Business Law Journal 215, 218 (2002)). Von dieser Perspektive aus ist es kaum überraschend, dass die Bestätigung und Konkretisierung der „failing firm“ defence in den US-amerikanischen Merger Guidelines 1982/84 in einer vergleichbar schwierigen wirtschaftlichen Situation in den Vereinigten Staaten zu Beginn der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts – schrumpfende Wirtschaft, zunehmende Insolvenzen und eine hohe Zahl von Arbeitslosen – sowohl von Seiten der Wirtschaft als auch der juristischen Praxis als ökonomisches Wundermittel überschwänglich begrüßt wurde (siehe Thomas E. Kauper, The 1982 Horizontal Merger Guidelines: Of Collusion, Efficency, and Failure, 71 California Law Review 497, 498-99 (1983)).
Doch die „failing firm“ Doktrin kann auch weitere wirtschaftliche Vorteile bewirken. Das strenge Insolvenzrecht der meisten Mitgliedsstaaten verbietet es den Gesellschaftern regelmäßig, ihre Einlagen oder zur Abwendung eines Konkurses gewährte Darlehen und ähnliches im Angesicht einer drohenden Insolvenz des Unternehmens zu entnehmen. Die Einlagen oder Darlehen sind zumeist „verlorenes Kapital“, soweit die Insolvenz tatsächlich eintritt, da die Gesellschafter regelmäßig nur einen kleinen Bruchteil ihrer Investitionen nach Beendigung der Insolvenz zurück erhalten. Soweit die Darlehen für ein Unternehmen auf der Schwelle zur Insolvenz verwendet werden, verzögert dies den Konkurs im Regelfall nur. Das Kapital kann besser zum Aufbau neuer Unternehmen investiert werden. Jeder Versuch, Insolvenzen oder ähnliche Fehlentwicklungen eines Unternehmens zu verhindern, kann daher dieses „verlorene Kapital“ retten.
Berücksichtigt man die möglichen positiven Effekte für die nationalen Ökonomien innerhalb der Union, erscheint es erstaunlich, dass die Kommission – auch angesichts früherer Überlegungen der mitgliedsstaatlichen Wettbewerbsbehörden – die „failing firm“ Doktrin nicht früher als in ihrer Kali & Salz-Entscheidung von 1993 entdeckt hat. Die Anwendung der „failing firm“ Doktrin im EU-Kartellrecht stellt zudem erneut die Frage, ob bei Fusionsentscheidungen andere als Wettbewerbsbelange berücksichtigt werden können. Diese Frage wird in Nachfolge der Überzeugungen der Chicago School zumeist verneint (Siehe Herbert Hovenkamp, Antitrust Policy After Chicago, 84 Michigan Law Review 213, 226-229 (1985); Richard A. Posner, The Chicago School of Antitrust Analysis, 127 University of Pennsylvania Law Review 925 (1979) and generally Bork, The Antitrust Paradox. A Policy at War with Itself, The Free Press (New York), 90-91) oder allenfalls mit Vorbehalten bejaht (siehe zu diesem Problem näher Alison Jones/Brenda Sulpin, EC Competition Law – Text, Cases, and Materials, Oxford University Press (2001), 15-18. Exemplarisch für die Entscheidungspraxis der Kommission Bertelsmann/Kirch/Premiere, Case No IV/M.993 (May 27, 1998), (1999) OJ L 53/1 (February 27, 1999); Deutsche Telekom/BetaResearch, Case No IV/M.1027(May 27, 1998), (1999) OJ L 53/31 (February 27, 1999) and Commission, Fifteenth Report on Competition Policy, point 26. Siehe dazu auch Lennart Ritter/W. David Braun/Francis Rawlinson, European Competition Law: A Practioner’s Guide, Kluwer Law International (London) (2nd Ed. 2000), 407-408). Soweit die Implementierung der „failing firm“ Doktrin im EU-Kartellrecht zur Erreichung der aufgezeigten wirtschaftlichen Effekte führen soll, wären nicht-wettbewerbliche Faktoren relevant für die Entscheidungen der EU-Kommission.

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