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Thüringer Bauordnung | [ThürBO] | Kommentar | Prof. Dr. Sven Müller-Grune |
§ 61 Genehmigungsfreistellung |
(1) Keiner Genehmigung bedarf unter den Voraussetzungen des Absatzes 2 die Errichtung, Änderung und Nutzungsänderung von 1. Wohngebäuden der Gebäudeklassen 1 bis 3, 2. sonstigen Gebäuden der Gebäudeklassen 1 und 2, 3. sonstigen Anlagen, die keine Gebäude sind, 4. Nebengebäuden und Nebenanlagen zu Vorhaben nach den Nummern 1 bis 3, ausgenommen Sonderbauten und Anlagen, die einer Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung oder einer Vorprüfung nach dem Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVPG) oder dem Thüringer Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung unterliegen. Satz 1 gilt nicht für die Errichtung, Änderung oder Nutzungsänderung 1. eines oder mehrerer Gebäude, wenn dadurch dem Wohnen dienende Nutzungseinheiten mit einer Größe von insgesamt mehr als 5.000 m² Brutto-Grundfläche geschaffen werden, und 2. baulicher Anlagen, die öffentlich zugänglich sind, wenn dadurch die gleichzeitige Nutzung durch mehr als 100 zusätzliche Besucher ermöglicht wird, die innerhalb eines vom Landesverwaltungsamt bekannt gemachten Abstands um einen Betriebsbereich im Sinne des § 3 Abs. 5a des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (BImSchG) in der Fassung vom 17. Mai 2013 (BGBl. I S. 1274) in der jeweils geltenden Fassung liegen, es sei denn, die Immissionsschutzbehörde hat aufgrund ihr vorliegender Kenntnisse mitgeteilt, dass sich das Vorhaben außerhalb des Sicherheitsabstands des Betriebsbereichs im Sinne des § 50 BImSchG befindet. Bei der Festlegung des Abstands nach Satz 2 sind insbesondere die im Betriebsbereich verwendeten Stoffe, die Art des Umgangs mit diesen Stoffen, Gegebenheiten der unmittelbaren Umgebung und repräsentative Szenarien eines schweren Unfalls zu berücksichtigen. (2) Nach Absatz 1 ist ein Bauvorhaben genehmigungsfrei gestellt, wenn 1. es im Geltungsbereich eines Bebauungsplans im Sinne des § 30 Abs. 1 oder der §§ 12, 30 Abs. 2 BauGB liegt, 2. es den Festsetzungen des Bebauungsplans nicht widerspricht, 3. die Erschließung im Sinne des Baugesetzbuchs gesichert ist und 4. die Gemeinde nicht innerhalb der Frist nach Absatz 3 Satz 2 erklärt, dass das vereinfachte Genehmigungsverfahren durchgeführt werden soll, oder eine vorläufige Untersagung nach § 15 Abs. 1 Satz 2 BauGB beantragt. (3) Der Bauherr hat die erforderlichen Unterlagen bei der Gemeinde einzureichen; die Gemeinde legt, soweit sie nicht selbst Bauaufsichtsbehörde ist, eine Fertigung der Unterlagen unverzüglich der unteren Bauaufsichtsbehörde vor. Mit dem Vorhaben darf einen Monat nach Vorlage der erforderlichen Unterlagen bei der Gemeinde begonnen werden. Teilt die Gemeinde dem Bauherrn vor Ablauf der Frist schriftlich mit, dass kein Genehmigungsverfahren durchgeführt werden soll und sie eine Untersagung nach § 15 Abs. 1 Satz 2 BauGB nicht beantragen wird, darf der Bauherr mit der Ausführung des Vorhabens beginnen. Von der Mitteilung nach Satz 3 hat die Gemeinde die Bauaufsichtsbehörde zu unterrichten. Will der Bauherr mit der Ausführung des Bauvorhabens mehr als drei Jahre, nachdem die Bauausführung nach Sätzen 2 und 3 zulässig geworden ist, beginnen, gelten die Sätze 1 bis 4 entsprechend. (4) Die Erklärung der Gemeinde nach Absatz 2 Nr. 4, dass das vereinfachte Genehmigungsverfahren durchgeführt werden soll, kann insbesondere deshalb erfolgen, weil sie eine Überprüfung der sonstigen Voraussetzungen des Absatzes 2 oder des Bauvorhabens aus anderen Gründen für erforderlich hält. Darauf, dass die Gemeinde von ihrer Erklärungsmöglichkeit keinen Gebrauch macht, besteht kein Rechtsanspruch. Erklärt die Gemeinde, dass das vereinfachte Baugenehmigungsverfahren durchgeführt werden soll, hat sie dem Bauherrn die vorgelegten Unterlagen zurückzureichen. Hat der Bauherr bei der Vorlage der Unterlagen bestimmt, dass seine Vorlage im Fall der Erklärung nach Absatz 2 Nr. 4 als Bauantrag zu behandeln ist, leitet sie die Unterlagen gleichzeitig mit der Erklärung an die Bauaufsichtsbehörde weiter. (5) § 65 bleibt unberührt. § 67 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 4 Satz 1 und 2 sowie § 71 Abs. 6 bis 8 sind entsprechend anzuwenden. |
Kommentierung |
A. Normgeschichte
1. Historie
2. Gesetzesbegründung
Das Genehmigungsfreistellungsverfahren sieht keine präventive Befassung der Bauaufsichtsbehörde mit dem Bauvorhaben vor, sondern allein eine Einschaltung der Gemeinde, die im Interesse insbesondere des Schutzes ihrer Planungshoheit das Bauvorhaben in ein Genehmigungsverfahren "überleiten" kann. Die Bauaufsichtsbehörde erhält durch die Übermittlung der Unterlagen lediglich Kenntnis von einer Bauabsicht, ohne dass sie tätig werden müsste.
Absatz 1 regelt den gegenständlichen Anwendungsbereich der Genehmigungsfreistellung. Es handelt sich dabei um Gebäude und andere Anlagen, die üblicherweise ein geringeres Gefahrenpotential aufweisen und im Allgemeinen kaum über das Baurecht hinaus weitere Rechtsgebiete berühren. Generell ausgenommen werden Sonderbauten, da diese nicht nur mit einem erhöhten Gefahrenpotential verbunden sind, sondern sich vor allem die materiellen Anforderungen regelmäßig nicht unmittelbar aus einer gesetzlichen Regelung ergeben, sondern nach § 51 jeweils bezogen auf das konkrete Bauvorhaben bestimmt werden. Anlagen, die einer Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung oder einer Vorprüfung nach dem Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung oder dem Thüringer Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung unterliegen, werden ausgenommen, da für die Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung ein "Trägerverfahren" erforderlich ist. Für diese Anlagen kommt auch kein vereinfachtes Baugenehmigungsverfahren nach § 62 in Betracht, da sowohl die Vorprüfung der Umweltverträglichkeitsprüfungspflicht als auch die Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung einen Zeitaufwand erfordert, der mit dem gewollten Beschleunigungszweck nicht vereinbar ist.
Absatz 2 bestimmt die Voraussetzungen, unter denen die Bauvorhaben nach Absatz 1 genehmigungsfrei sind.
Das Bauvorhaben muss nach Nummer 1 im Geltungsbereich eines qualifizierten (§ 30 Abs. 1 BauGB) oder eines vorhabenbezogenen Bebauungsplans (§§ 12, 30 Abs. 2 BauGB) liegen. Geprüft worden ist, den Anwendungsbereich der Genehmigungsfreistellung über den qualifiziert beplanten auf den nicht beplanten Innen- (§ 34 BauGB) und den Außenbereich (§ 35 BauGB) auszuweiten unter der Voraussetzung, dass die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Bauvorhabens durch Vorbescheid (§ 74) festgestellt worden ist. Davon wird mit Rücksicht darauf Abstand genommen, dass die sachlich für die Genehmigungsfreistellung in Betracht kommenden Bauvorhaben im Falle ihrer Genehmigungsbedürftigkeit im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren (§ 62) zu behandeln sind. Dessen Prüfprogramm beschränkt sich aber in der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle gerade auf die Feststellung der planungsrechtlichen Zulässigkeit des Bauvorhabens, sodass ein sachlicher Vorteil auch für den Bauherrn nicht erkennbar ist.
Nach Nummer 2 darf das Bauvorhaben den Festsetzungen des Bebauungsplans nicht widersprechen, muss also ohne Ausnahmen (§ 31 Abs. 1 BauGB) und Befreiungen (§ 31 Abs. 2 BauGB) zulässig sein. Erwogen worden ist, in den Anwendungsbereich auch ausnahme- beziehungsweise befreiungsbedürftige Bauvorhaben einzubeziehen, sei es durch das Erfordernis eines vorab, die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit feststellenden Vorbescheids, sei es durch eine ebenfalls vorab zu fordernde isolierte Ausnahme oder Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans. Auch dieser Ansatz ist mit Rücksicht auf das im Kern auf die planungsrechtliche Zulässigkeit beschränkte Prüfprogramm des vereinfachten Baugenehmigungsverfahrens nicht weiter verfolgt worden, neben dem solche Lösungen keinen nennenswerten praktischen Nutzen brächten.
Nummer 3 fordert, angelehnt an die tatbestandlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 30 Abs. 1 BauGB, dass die bauplanungsrechtliche Erschließung gesichert sein muss.
Nach Nummer 4 schließlich darf die Gemeinde nicht innerhalb der Monatsfrist nach Absatz 3 Satz 2 erklärt haben, dass das vereinfachte Genehmigungsverfahren durchgeführt werden soll, oder eine vorläufige Untersagung nach § 15 Abs. 1 Satz 2 BauGB beantragt haben. Zwar würde die zweite Alternative für die Umsetzung der mit § 36 Abs. 1 Satz 3 BauGB in Zusammenhang stehenden bundesrechtlichen Vorgabe des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauGB - gewissermaßen als Minimalschutz der gemeindlichen Planungshoheit - ausreichen. Jedoch erscheint es angezeigt, der Gemeinde daneben und unabhängig davon die Möglichkeit einzuräumen, das Bauvorhaben in das vereinfachte Baugenehmigungsverfahren "umzusteuern". Denn es sind vielfältige Konstellationen denkbar, in denen es sinnvoll ist, zwischen der Gemeinde und dem Bauherrn auftretende Meinungsverschiedenheiten im Wege der Durchführung des vereinfachten Baugenehmigungsverfahrens zu entscheiden, etwa bei unterschiedlicher Beurteilung der Plankonformität des Vorhabens, zumal dann, wenn eine kleinere und leistungsschwächere Gemeinde schwierigere planungsrechtliche Fragen nicht rechtssicher beurteilen kann.
Absatz 3 regelt Verfahrensfragen der Genehmigungsfreistellung.
Satz 1 schreibt die Einreichung der erforderlichen Unterlagen bei der Gemeinde vor. Welche hierbei gemeint sind, ergibt sich aus der Thüringer Bauvorlagenverordnung. Die Gemeinde hat eine Fertigung der Unterlagen unverzüglich der Bauaufsichtsbehörde, sofern sie dies nicht selbst ist, vorzulegen. Die Bauaufsichtsbehörde entscheidet eigenständig, wie sie mit diesen Unterlagen umgeht. Eine Verpflichtung zur Überprüfung der Unterlagen auf Vollständigkeit oder inhaltliche Richtigkeit besteht nicht. Ebenfalls entbehrlich ist eine gesonderte Regelung einer Einschreitensfrist, weil deren Ablauf auch beim Anzeigeverfahren für den Bauherrn keinen Vertrauensschutz schaffen würde.
Satz 2 regelt die mit dem Eingang der (vollständigen erforderlichen) Unterlagen bei der Gemeinde beginnende Monatsfrist, nach deren Ablauf der Bauherr (unter diesem Aspekt) formell legal mit der Bauausführung beginnen kann. Die Gemeinde kann diese Frist dadurch abkürzen und dem Bauherrn einen früheren Baubeginn ermöglichen, dass sie ihm nach Satz 3 vor Fristablauf schriftlich mitteilt, dass sie von den Möglichkeiten des Absatzes 2 Nr. 4 keinen Gebrauch machen wird.
Die Einbindung der Gemeinde in die Genehmigungsfreistellung soll unter anderem die "Anstoßwirkung" sichern, die ein Bauvorhaben für etwaige planerische Absichten der Gemeinde haben kann. Diesen Anstoß kann das Instrument des Absatzes 3 Satz 1 nur zu dem jeweiligen Zeitpunkt, also gleichsam nur punktuell geben. Auch wenn es Sache des Bauherrn ist, der Genehmigungsfreistellung, die keine einer Baugenehmigung vergleichbare Schutzwirkung nachfolgenden Änderungen der bauplanungsrechtlichen Vorgaben nach Absatz 2 Nr. 1 und 2 gegenüber vermittelt, solche Änderungen selbst zu beobachten und zu verfolgen, erscheint es sachgerecht, der Gemeinde nach Ablauf eines Zeitraums von drei Jahren nach (erstmaliger) Genehmigungsfreistellung (entsprechend der Geltungsdauer der Baugenehmigung nach § 72 Abs. 1) Gelegenheit zu geben, ihre Haltung zu einem nach wie vor plankonformen Bauvorhaben nochmals zu überdenken (Satz 4).
Absatz 4 enthält nähere Regelungen über die gemeindliche Erklärung nach Absatz 2 Nr. 4 erste Alternative und deren Wirkungen. Satz 1 enthält bewusst keine abschließende Aufzählung derjenigen Gründe, welche die Gemeinde dazu veranlassen können beziehungsweise dürfen, zu erklären, dass das vereinfachte Baugenehmigungsverfahren durchgeführt werden soll. Damit soll zum einen der Eindruck vermieden werden, der Gemeinde würden durch die Einräumung der Erklärungsmöglichkeit bestimmte Prüfpflichten auferlegt, die ihr auch gegenüber dem Bauherrn mit entsprechenden Konsequenzen (Feststellungswirkung, Amtshaftung) obliegen könnten. Zum anderen wird dadurch verdeutlicht, dass die gemeindliche Erklärung, dass das vereinfachte Baugenehmigungsverfahren durchgeführt werden soll, stets zur Genehmigungsbedürftigkeit des Bauvorhabens führt und, unter den Voraussetzungen des Satzes 4, unabhängig von dem Grund der Differenzen zwischen Bauherrn und Gemeinde in diesem Verfahren eine schnelle Konfliktlösung erfolgen kann.
Satz 2 unterstreicht, dass die Genehmigungsfreistellung kein Baugenehmigungsverfahren ist und keine "genehmigungsartige" Funktion erfüllt, indem klargestellt wird, dass auf ein Unterlassen der gemeindlichen Erklärung kein Rechtsanspruch (des Bauherrn) besteht.
Die Sätze 3 und 4 regeln die Rechtsfolgen der Abgabe der gemeindlichen Erklärung, dass das vereinfachte Baugenehmigungsverfahren durchgeführt werden soll. Diese Erklärung führt stets zur Genehmigungsbedürftigkeit des Bauvorhabens. Im Falle des Satzes 3 hat die Gemeinde dem Bauherrn die vorgelegten Unterlagen zurückzureichen, da dann, mangels Bauantrags, kein Baugenehmigungsverfahren anhängig ist. Hat der Bauherr bei der Vorlage der Unterlagen bestimmt, dass seine Vorlage im Fall der Erklärung nach Absatz 2 Nr. 4 als Bauantrag zu behandeln ist, wird die Genehmigungsfreistellung gewissermaßen als Baugenehmigungsverfahren fortgesetzt, das mit der Weitergabe der Unterlagen an die Bauaufsichtsbehörde nach Satz 4 bei dieser anhängig wird.
Absatz 5 stellt in Satz 1 klar, dass die Genehmigungsfreistellung nicht von den durch § 65 begründeten Anforderungen bezüglich der Erstellung und gegebenenfalls Prüfung der bautechnischen Nachweise entbindet. Satz 2 erklärt bestimmte Bestimmungen über die vollständige Einreichung der Bauvorlagen, deren Unterzeichung und den Baubeginn für entsprechend anwendbar.
3. Verwaltungsvorschrift
B. Normauslegung
Zitiervorschlag:
Müller-Grune Sven, Kommentar zur Thüringer Bauordnung, Schmalkalden 2017, § 61.
© Prof. Dr. Sven Müller-Grune |
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