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Energierecht und Grundfreiheiten der EU

Auswirkungen des Primärrechts im Bereich des Binnenmarktes auf Energierecht

Das europäische Recht hat einen enormen Einfluss auf das nationale Recht in den Mitgliedstaaten der EU. Die Liberalisierung der Energiemärkte und die damit verbundenen Rechtsinstitute (Energiemärkte, regulierter Netzzugang, Entflechtung) wurden durch Richtlinien der EU (und früher der EG) maßgeblich geprägt. Aber nicht nur diese Bereiche sind auf europäische Rechtsangleichung zurückzuführen. Bis heute noch wirkt sich das Primärrecht der EU auf energierechtliche Sachverhalte aus und ist Gegenstand von zahlreichen, auch für die Energiewirtschaft bedeutsamen Urteilen des EuGH. Nachstehend wird der Einfluss der Grundfreiheiten (AEUV) auf Sachverhalte der Energiewirtschaft geschildert.

A. Rechtsquellen


1. Rechtsakte
Die Grundfreiheiten der EU selbst sind in dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union geregelt. In dem Vertrag sind auch weitere Regelungen des Primärrechts (Beihilfen, Wettbewerb etc.) enthalten. Neben Primärrechts sind zahlreiche Richtlinien und Verordnungen der EU zu beachten (siehe unten im Detail).

2. Relevante Rechtsprechung:
Folgende Urteile des EuGH enthalten Aussagen über Auswirkung der europäischen Grundfreiheiten auf Sachverhalte aus der Energiewirtschaft in den Mitgliedstaaten bzw. sind allgemein für das Verständnis der Dogmatik der Grundfreiheiten von grundlegender Bedeutung:
    • Fall Cassis de Dijon (EuGH, Urt. v. 20. 2. 1979 -120/78)
    • Fall Dassonville (EuGH, Urteil vom 11. 7. 1974-8/74)
    • Fall Essent Belgium NV (EuGH, in den verbundenen Rechtssachen C-204/12 bis C-208/12)
    • Fall Preussen Elektra (EuGH, Urteil vom 13. 3. 2001- C-379/98)

3. Literatur
Folgende Literatur ist bei der Bearbeitung der o. g. Themen hilfreich:
    • Große/Kachel, in: Altrock/Oschmann/Theobald, Eneuerbare-Energien-Gesetz, § 40, Rn. 28 ff.
    • Gundel, Die Vorgaben der Warenverkehrsfreiheit für die Förderung erneuerbarer Energien - Neue Lösungen für ein altes Problem?, EnWZ 2014, 99
    • Lecheler/Recknagel, in: Dauses, EU Wirtschaftsrecht, M. Energierecht, Rn. 12 ff.
    • Müller, in: Müller/Oschmann/Wustlich, Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz, Rn. 177 ff.
    • Sailer/Kantenwein, in: Reshöft/Schäfermeier, EEG – Erneuerbare-Energien-Gesetz, Rn 248 ff.
    • Theobald/Theobald, Grundzüge des Energiewirtschaftsrechts, 5. Teil. Energieversorgung zwischen Deregulierung und (Re-) Regulierung


B. Rechtsfragen
Zwischen den Grundfreiheiten der EU und (nationalen) Sachverhalten der Energiewirtschaft besteht ein klarer Zusammenhang: die Grundfreiheiten sind Prüfungsmaßstab für potenzielle Verstöße gegen Europarecht. Dabei kann bereits eine nationale Vorschrift gegen Grundfreiheiten verstoßen (mit der Folge, dass diese in europarechtlich relevanten Sachverhalten nicht anwendbar ist => Anwendungsvorrang). Allerdings kann auch ein einzelner Sachverhalt (privatrechtliche Handlung, ein Verwaltungsakt) zu einem Verstoß führen.

Im Ergebnis stellt sich in der Praxis stets die Frage, ob ein Verstoß gegen die Grundfreiheiten vorliegt.


C. Prüfungsaufbau zum Verstoß gegen Warenvekehrsfreiheit im Kontext der Energiewirtschaft
Den allgemeinen Aufbau der Prüfung eines Verstoßes gegen die Warenverkehrsfreiheit als Baumstruktur finden Sie hier.

1. Keine Spezialvorschriften

a. Harmonisiertes Recht (Richtlinien)
Zu beachten sind insbesondere die Richtlinien und Verordnungen des Energiepaketes, in denen die jeweilige Marktordnung der Energiewirtschaft in den Mitgliedstaaten detailliert geregelt wurde. Viele Berührungspunkte für grenzüberschreitende Sachverhalte haben sich dabei in der Praxis noch nicht ergeben.
Relevant ist aber auch die Erneuerbare-Energien-Richtlinie (früher 2009/28/EG, aktuell 2018/2001/EU), die unterschiedliche Systeme zur Förderung erneuerbarer Energien in den Mitgliedstaaten erlaubt. Mit dieser Richtlinie (Fassung von 2009) befasst sich der EuGH auch (kurz) im Fall Ålands Vindkraft (EuGH, Urt. v. 1. 7. 2014 - C-573/12).

b. Sonstige Spezialregeln
Waffenhandel, Agrarprodukte unterliegen nicht den allgemeinen Vorschriften über die Warenverkehrsfreiheit. Auch wenn diese Spezialregelungen selten Berührungspunkte mit der Energiewirtschaft aufweisen, sind sie (zumindest theoretisch) an dieser Stelle zu berücksichtigen.

2. Schutzbereich
Neben der Zollunion sieht die Warenverkehrsfreiheit insbesondere das Verbot von mengenmäßigen Beschränkungen vor. Diese ist auch für Fälle der Energiewirtschaft relevant.

a. Persönlicher

b. Sachlicher

      • Ware? Energie (Strom wie Gas) ist spätestens seit Almelo [2] ist anerkannt, dass Strom als Ware auch Handelsgegenstand ist und damit in den Schutzbereich der Warenverkehrsfreiheit fällt.
      • aus der EU (in der EU produziert oder Zollformalitäten erfüllt)
      • Handlung?
      • grenzüberschreitender Sachverhalt

c. Räumlicher, zeitlicher Schutzbereich
Im Hinblick auf den räumlichen und zeitlichen Schutzbereich der Grundfreiheiten im Zusammenhang mit energierechtlichen Sachverhalten sind keine Besonderheiten zu erwarten.

3. Eingriff
Liegt vor, wenn ein Mitgliedstaat eine Handelsbeschränkung i. S. d. Art. 34 oder 35 AEUV einführt.

a. Mitgliedstaatliche Maßnahme
Aber: Adressat auch Unionsorgane und - zumindest in Ausnahmefällen - auch Private!

b. Handelsbeschränkung
Neben einer Ausfuhrbeschränkung insb. Einfuhrbeschränkungen i. S. d. Art. 34 AEUV:

      • mengenmäßige Einfuhrbeschränkung als solche
      • Maßnahme gleicher Wirkung (wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkung)

Hier: Dassonville + Keck-Formel:

(1) jede Maßnahme - direkt und mittelbar gleichermassen

(2) die geeignet ist, den Handel tatsächlich oder nur potenziell zu beeinträchtigen

(3) keine reinen Verkaufsmodalitäten!

4. Keine Rechtfertigung

a. Art. 36 AEUV
Im Falle der Förderung erneuerbarer Energien kommt Schutz der Gesundheit und des Lebens des Menschen sowie von Tieren und Pflanzen - im Zusammenhang mit dem Umwelt- und Klimaschutz in Betracht [3].
Zu beachten ist, dass eine willkürliche Diskriminierung zwar verboten ist (Art. 36 S. 2 AEUV), aber eine Unterscheidung zwischen nationalen und ausländischen Sachverhalten durchaus gerechtfertigt sein kann, wenn sie einen sachlichen Grund hat.

b. Zwingende Gründe des Gemeinwohls gem. Cassis-Formel
Der Umweltschutz wird als zwingendes Erfordernis des Allgemeinwohls im Sinne der Formel erachtet [3].
Voraussetzung für die Anwendung der Cassis-Formel ist allerdings, dass auf EU-Ebene noch keine (hinreichende) Harmonisierung erfolgte und die Mitgliedstaaten zum Erlass von Sonderregeln berechtigt sind. Im Falle der RL 2009/28/EG sieht der EuGH einen Alleingang der Mitgliedstaten in vielen Bereichen als zulässig, vgl. z. B. Art. 3 Abs. 3 der RL - insbesondere können die Mitgliedstaaten die Förderung auf Landesgrenzen beschränken.
Im Übrigen stellt die RL 2009/28/EG keine wirkliche Harmonisierung im Hinblick auf die Systeme zur Förderung erneuerbarer Energien dar. Weder von der Höhe der Förderung noch im Hinblick auf den Weg werden hier Vorgaben gemacht - die Mitgliedstaaten können die Förderung nach eigenen Ansichten gestalten.

Verhältnismäßigkeit
Grund der Förderung: Schutz von Umwelt = Gesundheit und Leben
Geeignetheit = System der "grünen" Zertifikate in Schweden prinzipiell geeignet, die Quote erneuerbarer Energien zu steigern.
Erforderlichkeit = Milderes Mittel, als ein auf Staatsgrenzen beschränktes System ist nicht möglich, insbesondere aus Kosten gründen.

c. Daseinsvorsorge gem. Art. 106 Abs. 2 AEUV

(1) Ein Wirtschaftsunternehmen

(2) Erbringt Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse
Oder: Finanzmonopol!

(3) Das Unternehmen wurde durch den Mitgliedstaat mit der Erbringung der Leistung betraut

(4) Die Befolgung von EU-Recht würde zur Verhinderung der Aufgabenerfüllung (rechtlich oder tatsächlich) führen

(5) Keine dem Unionsinteresse zuwiderlaufende Beeinträchtigung des Handelsverkehrs


D. Einige Beispielkonstellationen aus der Rechtsprechung des EuGH


1. EuGHE 1997, I-5699
Im Verfahren gegen das Stromhandelsmonopol in den Niederlanden hat die Kommission in erster Linie eine Verletzung der damaligen Art. 30 und 37 EGV (Art. 34 AEUV und Art. 37 AEUV) gerügt. Sie stützte sich insofern auf das Verbot von mengenmäßigen Beschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung auf der einen Seite sowie auf das Gebot der Korrektur von Handelsmonopolen dahingehend, dass aus diesen Monopolen keine Diskriminierungen folgen. Ein Verstoß gegen (gegenwärtig) Art. 37 AEUV durch Einfuhrmonopol der entsprechenden Stelle wird durch den EuGH bejaht. Der EuGH prüft aber eine eventuell vorrangige Rechtfertigung gem. Art. 90 Abs. 2 EGV (damalige Vorschrift entspricht heute dem Art. 106 Abs. 2 AEUV).
Letztlich wurde die Klage der Kommission abgewiesen, allerdings nicht aus materiellrechtlichen Gründen, sondern weil die Kommission nicht hinreichend belegt hatte, dass die Anwendung der Vorschriften der Verträge "nicht die Erfüllung der Monopolstelle übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert".

Heute wird - angesichts der vorgeschriebenen Liberalisierung der Energiemärkte - zumindest im Hinblick auf Stromhandel, Erzeugung und Vertrieb vermutlich keine Notwendigkeit von Staatsmonopolen mehr zu bejahen sein.


2. EuGHE 1994, I-1783 (Almelo) - EuGH vom 27.04.1994 - C-393/92
In diesem Verfahren hatten mehrere lokale niederländische Stromversorgungsunternehmen gegen regionale Stromversorungsunternehmen geklagt, da die regionalen Stromversorger mit den lokalen Stromversorgern Verträge mit Klauseln zur ausschließlichen Abnahme von Strom geschlossen hatten. Diese seien, laut der lokalen Stromversorger, europarechtswidirg.
Der EuGH prüfte, ob die Artikel 37 und/oder 85 und/oder 86 und/oder 90 EWG-Vertrag den Abnahmeklauseln entgegenstanden. Im Rahmen der Beantwortung dieser Frage stellte der EuGH fest, dass es sich bei Elektrizität um eine Ware im Sinne des Art. 37 EWG - Vertrag handelt.

3. EuGHE 1984, 2727 (Campus Oil) - EuGH vom 10.07.1984 - Rechtssache 72/83
In diesem Verfahren klagten im Erdölgeschäft tätige Unternehmen gegen eine Regelung der irischen Regierung, wonach 35 % des Erdölbedarfs der Unternehmen bei einem staatlichen irischen Unternehmen einzukaufen waren.
In diesem Zusammenhang befasste sich der EuGH mit der Frage, ob eine solche Maßnahme europarechtskonform ist und unter welchen Umständen eine solche Maßnahme zu rechtfertigen ist.
Der EuGH stellte fest, dass eine solche Maßnahme grundsätzlich verhältnismäßig sein muss. Das heißt, dass keine andere Maßnahme möglich ist, die sich weniger restriktiv auf den freien Warenverkehr auswirkt.
Weiterhin muss die Maßnahme gerechtfertigt sein. Dies ist insbesondere der Fall, wenn Gründe der öffentlichen Sicherheit vorliegen (vgl. Artikel 36 AEUV).

E. Fallbeispiel
Ein Fallbeispiel zum Thema Grundfreiheiten und Energiewirtschaft ist hier zu finden.


[3] EuGH, Rs. C‐573/12 (Ålands Vindkraft AB / Energimyndigheten), Urteil vom 1. 7. 2014.


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