Juristisches Lernen
allgemeine Hinweise für das juristische Studium
Zu Beginn des Studiums stellt sich vielen bestimmt die Frage, wie das Rezept für erfolgreiche Beschäftigung mit der Rechtswissenschaft ist. Ob Wirtschaftsrecht an der Fachhochschule oder Rechtswissenschaften an der Universität - das juristische Handwerk müssen alle am Ende perfekt beherrschen. Und dieses ist nicht auf den ersten Blick verständlich. Aus Erfahrung kann man behaupten, dass die Schwierigkeit sich in der Regel aus der spezifischen Vorgehensweise eines Juristen an die in seinem späteren Berufsleben zu lösenden Fragen ergibt. Die Mühe lohnt sich aber: gute Juristen werden in der Regel nicht deswegen gelobt, weil sie Juristen sind, sondern dann, wenn sie strukturiert und systematisch vorgehen können - eben so, wie dies in der Ausbildung gelernt und geübt wird.
Deshalb lautet die Empfehlung für alle Anfänger:
Zu Beginn des Studiums und immer wieder während der Prüfungsvorbereitung sollte man sich immer wieder die Frage stellen, wie das Recht funktioniert. Und beim Lernen immer wieder überlegen, wozu die gerade gelesenen/gehörten Aussagen in der Prüfung zu gebrauchen sind.
Die nachstehenden Hinweise sollen helfen, dieser Empfehlung zu folgen.
A. Wie sollte ich eine Vorschrift lesen?
Eine Vorschrift ist nicht dafür da, das Papier zu füllen. Sie soll etwas regeln, sie erhebt den Anspruch, eine Norm zu sein. Wenn es uns gelingt, die Norm aus der Vorschrift herauszulesen,
sehr vereinfacht ausgedrückt ist eine Norm eine Regelung, die in der Form "wenn 1, 2, 3, dann XYZ" wiedergegeben werden kann
dann stellt sich die Frage, wie wir mit einer solchen Norm umgehen sollen.Hat der Gesetzgeber seine Hausaufgaben richtig gemacht, gelingt es uns schnell, die Rechtsfolge zu finden. Und mit ihr sollten wir immer beginnen, wenn wir die Norm verstehen wollen. Denn sie bestimmt, was die Norm (und damit die Vorschrift) erreichen soll. Und aus der Rechtsfolge lesen wir heraus, ob sie bei der Beantwortung unserer juristischen Frage hilft. Lautet die Frage "Bekomme ich ein Auto nach Unterzeichnung eines Kaufvertrages?", dann hilft uns § 823 I BGB deshalb nicht, weil darin nicht "Lieferung einer Sache" als Folge steht, sondern "ist dem anderen zum Ersatze (...) verpflichtet". Die Rechtsfolge entscheidet über die Bedeutung der Norm innerhalb der Rechtsordnung, auch über ihre Position im Prüfungsaufbau eines Rechtsproblems. Auf der anderen Seite stehen die Voraussetzungen, welche die Norm zur Bedingung macht, damit die Rechtsfolge eintreten kann. Diesen können wir uns jedoch erst dann widmen, wenn wir mit Sicherheit wissen, dass wir die in der Norm vorgesehene Rechtsfolge benötigen.
Die praktische Bedeutung der Fähigkeit, eine Norm richtig zu lesen, zeigt folgendes Beispiel:
Beispiel
Sofern bei Unstimmigkeiten im Gesetzgebungsverfahren die Frage gestellt wird, ob ein Gesetz XYZ gültig ist, müssen unter anderem die Art. 76 GG und ff. analysiert werden. Die Gegenüberstellung von Art. 76 GG und Art. 78 GG zeigt deutlich den Unterschied beider Regelungen, der nachstehend hervorgehoben wurde:
Art. 76 GG
(1) Gesetzesvorlagen werden beim Bundestage durch die Bundesregierung, aus der Mitte des Bundestages oder durch den Bundesrat eingebracht.
(2) Vorlagen der Bundesregierung sind zunächst dem Bundesrat zuzuleiten. Der Bundesrat ist berechtigt, innerhalb von sechs Wochen zu diesen Vorlagen Stellung zu nehmen. (...)
(3) (...)
Art. 78 GG
Ein vom Bundestage beschlossenes Gesetz kommt zustande, wenn der Bundesrat zustimmt, den Antrag gemäß Artikel 77 Abs. 2 nicht stellt, innerhalb der Frist des Artikels 77 Abs. 3 keinen Einspruch einlegt oder ihn zurücknimmt oder wenn der Einspruch vom Bundestage überstimmt wird.
Nur Art. 78 GG enthält im Hinblick auf die eingangs gestellte Frage (Gültigkeit des Gesetzes) eine mögliche Antwort - nur in Art. 78 ist erwähnt, wann ein Gesetz zustande kommt. Eine isolierte Betrachtung beider Vorschriften ohne den restlichen Kontext des Grundgesetzes und der Literatur wäre selbstverständlich gefährlich, aber rein nach dem Wortlaut haben wir zumindest eine klare Indikation aus den Vorschriften, wenn es um ihre Bedeutung geht: nur die in Art. 78 genannten Voraussetzungen sind bei unserer Frage (Ist das Gesetz gültig?) relevant. Ob das Verfahren nach Art. 76 eingehalten werden muss oder nicht, ist vielleicht eine Frage der vollständigen Richtigkeit, nicht aber eine Frage der Gültigkeit eines Gesetzes. Sollte jemand behaupten, dass ein Fehler i. S. d. Art. 76 zur Ungültigkeit eines Gesetzes führt, hat er das Prinzip nicht verstanden.
Mit anderen Worten: weil in Art. 76 keine Rechtsfolge für den Fall der Nichtbeachtung genannt ist und Art. 78 auf Art. 76 keinen Bezug nimmt, ist Art. 76 bei unserer Frage unbeachtlich!
Also: erst eine klare Rechtsfolge sagt uns, ob die Vorschrift zu etwas zu gebrauchen ist oder nicht. Schafft der Gesetzgeber Vorschriften, bei denen die Rechtsfolgen gar nicht erkennbar sind (ist in letzten Jahren gar nicht so selten) dann sind diese Normen grundsätzlich wertlos, es sei denn, dass sie als Auslegungshilfe bei anderen Vorschriften behilflich sind oder durch die Lehre im Wege der Auslegung zu vollwertigen Normen fortentwickelt werden können.
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